Geschichte der FDP AR

Bis Ende des 19. Jahrhunderts wurde die politische Meinung der Ausserrhoder vornehmlich in den Lesegesellschaften und in der Presse gebildet. Von den in der Regenerationszeit (1830 -1848) entstandenen Lesegesellschaften vermochten sich einige bis ins 20. Jahrhundert zu erhalten, andere gingen ein und wurden durch Neugründungen ersetzt, im ganzen aber dürfte sich ihre Zahl bis Ende des 19. Jahrhunderts eher vermehrt haben.

Bei den Lesegesellschaften stand die politische Tätigkeit im Vordergrund: sie diskutierten die Probleme der Gemeinde und des Kantons, machten Wahlvorschläge und übten demnach die Funktion der späteren Parteien aus.

Der Umstand, dass jede kleine Lesegesellschaft ihre eigene Diskussion durchführte und meist allzusehr aus dem engen Blickwinkel der Gemeinde oder eines kleineren Bezirks politisierte, rief gelegentlich nach Zusammenschluss. 1877 trat in Herisau eine Delegiertenversammlung von 13 Lesegesellschaften zusammen. An diesen Veranstaltungen wurden vor allem kantonale Vorlagen behandelt.

Die meisten Lesegesellschaften bildeten um diese Zeit Sektionen des ausserrhodischen Volksvereins. Der beispielslose Schwung der Jahre des Kampfes um die 1874er Bundesversammlung liess jedoch allmählich nach: besass damals der Volksverein insgesamt nicht weniger als 53 Sektionen mit mehr als 2000 Mitgliedern, so waren es 1893 noch 32 Sektionen mit 900 Mitgliedern. Dennoch ging aus den Beratungen des Vereins einige wichtige Gründungen hervor, wie etwa die Kantonalbank und die Zwangsarbeitsanstalt.

Die Ziele, die sich die führenden Köpfe stellten, waren durchwegs freisinniger Art. So stellte sich bald die Frage, ob der Volksverein nicht den Anschluss an die 1894 gegründete freisinnige Partei der Schweiz vollziehen solle. Der Vorstand bejahte die Frage und liess sich an der Gründungsversammlung in Olten im Jahre 1894 durch sieben Delegierte vertreten.

Dem Bestreben, einen wünschenswerten ausserrhodischen Beitrag zur Stärkung der freisinnigen Seite in der Eidgenossenschaft zu leisten, stand jedoch die Tatsache entgegen, dass der Volksverein seit seinem Bestehen eine vollständig unabhängige Vereinigung war, die sich in jeder eidgenössischen und kantonalen Frage die unbeschränkte freie Stellungsnahme wahrte und dieselbe Unabhängigkeit auch seinen einzelnen Sektionen garantierte. Da jedoch die Gründung einer freisinnigen Partei neben dem Volksverein nicht in Frage kam, beschloss die Delegiertenversammlung am 10. Februar 1895 in Teufen, sich grundsätzlich mit dem Anschluss an die freisinnige Partei einverstanden zu erklären. 1895 liess sich der Volksverein am freisinnigen Parteitag vertreten, wobei er allerdings unterstrich, er behalte sich freie Stellungnahme zu jeder eidgenössischen Vorlage vor. Damit hatte der Volksverein zwar bekundet, dass er mit den Zielen der schweizerischen Partei einig gehe, eine kantonale Parteiorganisation war jedoch dadurch nicht entstanden.

Der Entschluss, einerseits möglichst viele Bürger verschiedener politischer Richtungen im Volksverein zu vereinigen, gleichzeitig aber freisinnige Politik wenigstens im eidgenössischen Rahmen zu betreiben, verlieh dem Volksverein etwas unscharfe Konturen.

Bevor der Volksverein den Schritt zur freisinnigen Partei wagte, entstand jedoch als Mittelgruppe zwischen Freisinn und Sozialdemokratie eine Demokratische Partei. Am 17. März 1906 erliess der „demokratische Verein“ Herisau  einen Aufruf zur Gründung einer kantonalen Demokratischen Partei. Das Parteiprogramm enthielt eine Reihe von Forderungen, die schon von der Arbeiterpartei erhoben worden waren; die Initianten bekannten sich auch zum Sozialismus, lehnten jedoch Klassenkampf ab.

Sowohl zum Volksverein wie zur Arbeiterpartei kam die Demokratische Partei in ein unklares Konkurrenzverhältnis: dem Arbeiterbund nahmen die Demokraten Wind aus den Segeln, und der Volksverein fand, die Meinungsbildung werde in ihren Versammlungen genügend gewährleistet. Es zeigte sich, dass die neue Partei keine breite Anhängerschaft zu finden vermochte. Immer mehr beschränkte sich ihre Tätigkeit auf die Gemeinde Herisau. Dass die Demokratische Partei ausserhalb von Herisau auf taube Ohren stiess,  hing auch mit der politischen Reorganisation des Volksvereins zusammen. Herisau machte den Anfang , indem hier 1909 die die Freisinnige Partei als Nachfolgerin der Mittwochgesellschaft zum Löwen formiert wurde. Am 3. Juli 1910 genehmigte die Delegiertenversammlung in Wolfhalden neue Statuten, in denen der Volksverein die weitere Bezeichnung „Freisinnig-demokratische Partei von Appenzell A.Rh.“ erhielt und als Glied der schweizerischen Freisinnig - demokratischen Partei bezeichnet wurde.

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges begann für die Ostschweiz eine Zeit anhaltender Wirtschaftskrise. Die katastrophale wirtschaftliche Lage, eine scharfe Teuerung, ungenügende soziale und kriegswirtschaftliche Massnahmen der Behörden, eine gefährliche Grippewelle und allgemeine Dienstverdrossenheit erzeugten gegen Ende des Jahres 1918 eine schwere Krise, die ihren Höhepunkt im Generalstreik vom 11.-14. November erreichte. Eine Folge der Generalstreikswirren waren in Ausserrhoden die Bildung von Bürgerwehren und der Versuch, die in der Freisinnigen Partei immer noch recht locker vereinigten Bürgerlichen in einer strafferen Parteiorganisation zusammenzufassen. Als sich die Bildung einer „Fortschrittlichen Bürgerpartei“ anbahnte, beschloss die Freisinnige Partei ihre Auflösung, beziehungsweise den Anschluss an die neue Bürgerpartei. Die neue Bürgerpartei jedoch setzte, wie die weitere Entwicklung bewies, die Tradition des Volksverein fort. Die „neue“ Partei blieb Mitglied der schweizerischen Freisinnig-demokratischen Partei.

Rund die Hälfte der 50 Landsgemeindevorlagen, die dem Volk in den Jahren 1920 bis 1939 unterbreitet wurden, waren von wirtschaftlicher Not oder Sorge um das Gleichgewicht des Staatshaushalts diktiert. Natürlich hatte die wirtschaftliche Lage auch ihre Auswirkungen auf das politische Klima des Landes. Die Hilflosigkeit, mit der die eidgenössischen und kantonalen Behörden der Krisensituation gegenüberstanden, förderte oppositionelle Strömungen und brachte die Vorherrschaft der Fortschrittlichen Bürgerpartei ins Wanken. In Ausserrhoden vermochte die „Freiwirtschaftsbewegung“ breite Kreise zu packen. In der Freigeldlehre schien sich vielen Leuten in der ausweglosen Krisensituation eine Alternative zu bieten, indem sie die kompliziertesten Wirtschaftsprobleme und ihre angebliche Lösung in verblüffend einfachen und einprägsamen Formulierungen zu präsentieren wusste.

Die Fortschrittliche Bürgerpartei betrieb in dieser Zeit keine glückliche Wahlpolitik und leistete dadurch der Opposition Aufschub. In einer Zeit, da überall von Erneuerung und Auffrischung der Behörden gesprochen und geschrieben wurde, portierte die Fortschrittliche Bürgerpartei beispielsweise 1934 beim Rücktritt eines 63-jährigen Regierungsrates einen 62-jährigen Nachfolger. Die Jungliberalen lancierten darauf eine Initiative auf Wahlalterbeschränkung, die von der Landsgemeinde angenommen wurde. Die gelegentliche sozialistisch-freiwirtschaftliche Allianz war indessen reine Anti-Politik, die bei Wahlen ihre Wirkung tat, während bei Sachentscheiden, vor allem bei eidgenössischen Abstimmungen, sofort offenbar wurde, wie sehr die wirtschaftspolitischen Auffassungen der beiden Lager auseinander klafften.

Als Hitler am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg auslöste, begann auch für das Appenzellervolk eine Bewährungsprobe, die es rückblickend gesehen, nicht schlecht bestand. Die Einschränkungen des lange dauernden Kriegs, die angespannte Lage in der Landwirtschaft, schlechte Prognosen für die Nachkriegszeit und Diskussionen über das Ausmass der Säuberung von nationalsozialistisch gesinnten Ausländern erzeugte jedoch gegen Ende des Krieges eine gewisse Missstimmung, die indessen nicht mit der fatalen Lage zu Ende des Ersten Weltkrieges verglichen werden kann. In Herisau spaltete sich die Sozialdemokratische Partei, indem mit einer „Arbeiter – und Bauernpartei“ eine Sektion der kommunistischen „Partei der Arbeit“ entstand. Da ein sozialistischer Kantonsrat dieser Gruppe beitrat, besass der ausserrhodische Kantonsrat für kurze Zeit ein kommunistisches Mitglied. Als Gottlieb Duttweiler in die politische Arena stieg und auch in Herisau Vorträge hielt, bildeten sich hier und in Teufen Ortsgruppen des Landesrings der Unabhängigen, die 1945 auch ein Kantonsratsmandat errang. Auch die Jungliberalen, die 1942 ihre Ortssektionen in einer Kantonalorganisation zusammenfassten, traten namentlich bei Wahlen immer wieder in Opposition zur Fortschrittlichen Bürgerpartei, die 1946 wieder ihre alte Bezeichnung „Freisinnig-demokratische Partei von Appenzell A.Rh.“ annahm[1].

[1] Aus Walter Schläpfer, Appenzeller Geschichte, Band II,